38,2 Prozent der Europäer leiden an einer psychischen Erkrankung
Dresden (dapd). Psychische Störungen könnten in Europa zur größten gesundheitspolitischen Herausforderung des 21. Jahrhunderts werden. Das konstatiert jetzt eine europäische Forschergruppe. Die Wissenschaftler hatten die Häufigkeit von mehr als 100 unterschiedlichen psychischen und neurologischen Krankheitsbildern in 30 europäischen Ländern untersucht. Es habe sich gezeigt, dass 164,8 Millionen Europäer an einer der untersuchten Störungen litten, berichten die Forscher im Fachmagazin „European Neuropsychopharmacology“. Das entspreche 38,2 Prozent. „Psychische Störungen sind kein seltenes Schicksal einiger Weniger. Das Gehirn als komplexestes Organ des Körpers ist genauso häufig wie der Rest des Körpers von Störungen und Erkrankungen betroffen“, betonen die Wissenschaftler.Nehme man alle festgestellten Erkrankungen zusammen, sei die gesellschaftliche Belastung durch psychische Störungen in Europa bei weitem größer als durch Krebs oder irgendeine andere Krankheitsgruppe, sagen die Forscher. Rechne man die Millionen neurologischen Erkrankungen – wie Alzheimer, Parkinson oder Multipole Sklerose – noch dazu, sei das wahre Ausmaß der gesellschaftlichen Belastung noch deutlich höher.Dramatische Missstände stellten die Forscher in der Versorgung dieser Erkrankten fest. Weniger als ein Drittel aller Betroffenen werde überhaupt behandelt, und dies zumeist nicht im Einklang mit fachlichen Richtlinien, sagen die Wissenschaftler um Studienleiter Hans-Ulrich Wittchen von der Universität Dresden. Die Behandlung starte zudem meist erst Jahre nach Krankheitsbeginn und entspreche oft nicht den minimalen Anforderungen an eine adäquate Therapie.Es sei daher dringend nötig, Versorgung und Prävention weiter zu verbessern. „Das niedrige Problembewusstsein, gekoppelt mit dem Unwissen über das wahre Ausmaß hinsichtlich Häufigkeit, Belastungen und Kosten psychischer Störungen in allen Gesellschaften und Schichten, ist das zentrales Hindernis für die Bewältigung dieser Herausforderung“, konstatiert Wittchen.In der über drei Jahre laufenden Studie ermittelten die Wissenschaftler den Gesundheitsstatus von 514 Millionen Menschen in allen 27 EU-Staaten sowie in der Schweiz, Island und Norwegen. Sie berücksichtigten dabei mehr als 100 unterschiedliche psychische und neurologische Krankheitsbilder. Damit sei dies die weltweit erste Studie, die ein nahezu vollständiges Spektrum von psychischen und neurologischen Störungen umfasse, sagen die Forscher.Die am häufigsten festgestellten psychischen Erkrankungen seien Angststörungen, Schlafstörungen, Depressionen und psychosomatische Erkrankungen gewesen, berichten die Wissenschaftler. Allein unter Angststörungen litten 14 Prozent der erfassten Europäer.Der Anteil der jeweiligen psychischen Störungen sei dabei in allen Ländern ähnlich gewesen, sagen Wittchen und seine Kollegen. Er habe sich seit 2005 nicht nennenswert verändert. Die psychischen Störungen seien zudem in allen Altersstufen ähnlich häufig und selbst unter Kindern und jungen Erwachsenen weit verbreitet.Die Studie identifiziert auch einige Faktoren, die für die bisher schlechte Versorgung der Erkrankten mitverantwortlich sind. Ein Faktor sei die Kluft zwischen Forschung und Praxis, konstatieren die Forscher. Das habe zur Folge, dass Ärzte in Diagnostik und Therapie oft noch veraltete Methoden einsetzen. Hier sei es unter anderem wichtig, die Behandlungsressourcen für psychische Störungen zu optimieren, sagt Wittchen.Eine weitere Ursache für die Missstände sei aber auch die gesellschaftliche und politische Tendenz, psychische und neurologische Erkrankungen zu marginalisieren und zu stigmatisieren, schreiben die Forscher. Dazu komme das weit verbreitete Unwissen in der Bevölkerung und in der Gesundheitspolitik bezüglich der verschiedenen Formen psychischer Störungen, ihrer Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten.“Wir brauchen unmittelbare konzertierte Aktionen auf allen Ebenen“, schreiben die Forscher. Vor allem die Diagnose und Therapie bei Kindern und Jugendlichen müsse verbessert werden. Nur die gezielte und umfassende Frühintervention könne einen exponentiell beschleunigten Anstieg der Häufigkeit Schwerstkranker in Zukunft verhindern.dapd